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Abi 1955

Wenn pünktlich zu Weihnachten der „OMNIBUS“ eintrifft, werden bei mir Erinnerungen wach an die eigene Pennälerzeit am KWG, an erfreuliche oder auch schmerzhafte Erlebnisse, an Lehrer, die mal mehr, mal weniger stark meinen beruflichen Werdegang beeinflußt haben, aber auch an die Lebensumstände „damals“, gerade im Vergleich zu den Verhältnissen am KWG heute. Erstaunlich jedoch ist, wie auch die wiederholten Appelle aus dem Vorstand der Vereinigung zeigen, daß relativ wenige aus der großen Zahl „Ehemaliger“ sich im „OMNIBUS“ über ihre Erlebnisse äußern.


Alten Höxteranern wird das Zigarrengeschäft Knieriem in der Westerbachstraße 10 noch ein Begriff sein, es hatte ursprünglich meinem Großvater gehört. Ich jedoch bin in Leipzig geboren und kam erst am 4. Mai 1946 nach Höxter. Mein Vater war schon im Okt. 1945 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien halbverhungert und krank nach Leipzig entlassen worden, seine frühere Arbeitsstätte, eine kosmetische Fabrik, war im alliierten Bombenhagel auf Leipzig und seine Vororte im Febr. 1944 in Flammen aufgegangen. So reifte allmählich bei meinen Eltern der Plan, sich aus der sowjetisch besetzten Zone in den Westen, nach Höxter in die Heimatstadt meines Vaters abzusetzen. Dazu benötigte man damals eine Zuzugsgenehmigung der britischen Militärverwaltung, die aber nur bekam, wer eine Unterkunft nachweisen konnte; das wiederum setzte einen Arbeitsplatz voraus (oder umgekehrt), den dann wieder ... usw. Mutter und Schwestern meines Vaters in Höxter sorgten für die nötigen Papiere: Mein Vater sollte eine Anstellung in seiner alten Lehrfirma Oppermann in der Bahnhofsstraße und eine Wohnung in „Oppermanns Scheune“ im Rohrweg bekommen – die jedoch mußte noch umgebaut werden und sollte erst 1948 schließlich bezugsfertig werden.

Nun aber stellten sich die ostzonalen Behörden quer und verlangten einen bestimmten Stempel der Briten auf besagten Dokumenten, den unsere Verwandten jedoch beim besten Willen nicht auftreiben konnten. Als sich dann herausstellte, daß mein Vater in ein Bergwerk (Braunkohle in Böhlen, Uran in Aue?) zwangsverpflichtet werden sollte, machten wir uns am 1. Mai 1946, dem Gründungstag der SED, in aller Stille auf den Weg, um notfalls heimlich über die damals noch nicht befestigte „grüne“ Grenze in den Westen zu gelangen. Ehe wir uns versahen, waren wir in den überfüllten Zügen unter Gleichgesinnten, der ominöse Stempel stellte sich als Finte heraus, denn niemand kannte oder besaß ihn. In Leinefelde und Heiligenstadt (Thüringen) mußten wir jeweils in Auffanglagern (Schulen bzw. Turnhallen) übernachten, wurden registriert, entlaust und mit Brot und Kohlsuppe verpflegt, dann ging's am 3. Mai von Heiligenstadt zunächst mit Lastwagen, dann zu Fuß Richtung Demarkationslinie bei Kirchgandern.

Jeder von uns Sechsen hatte einen mehr oder weniger großen Rucksack mit unserer wichtigsten Habe zu schleppen, selbst mein jüngster Bruder Arnulf, gerade zwei Jahre alt, trug sein Töpfchen auf dem Rücken; in dem großen Kinderwagen, die damals fast bis zum Boden reichten, war zuunterst unser Tafelsilber verstaut, Vaters Fotoapparate und – zerlegt – Mutters Nähmaschine, für eine sechsköpfige Familie ein fast überlebenswichtiges Utensil. Am Niemandsland zwischen den Zonen standen die sowjetischen Soldaten und filzten das Gepäck der Übersiedler nach den letzten Wertgegenständen. Auch bei uns grub ein Rotarmist bereits die Hände in den Kinderwagen, da zeigte mein Vater auf unseren Jüngsten, der kurz vor der Grenze oben auf dem Kinderwagen angeschnallt fest eingeschlafen war. Sofort zog der Russe seine Hände zurück, murmelte „karascho“ und entließ uns nach drüben. Auf der anderen Seite des Niemandslandes wurden wir von den Briten mit heißem Kakao, Apfelsinen und Schokolade für die Kinder empfangen und ins Lager Friedland gebracht, nur wenige Kilometer von meinem jetzigen Wohnort Göttingen entfernt. Wir wurden registriert, erneut entlaust und verbrachten eine Nacht in einer der tonnenförmigen Wellblechbaracken, aus denen das Lager seinerzeit bestand, Nissenhütten genannt in Anlehnung an die Eier der damals weit verbreiteten Kopfläuse. Am anderen Tag brachte uns die Eisenbahn nach Kreiensen und von dort nach Fürstenberg, da die Eisenbahnbrücken bei Corvey und Wehrden zerstört waren und teilweise sogar noch im Wasser lagen. In Fürstenberg wurden wir mit Handwagen erwartet, so daß wir das schwere Gepäck nicht den langen Weg durch´s Brückfeld nach Höxter schleppen mußten. Es war ein wunderschöner Maitag, die Kastanien blühten bereits, mir ist er unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Untergebracht wurden wir in den ersten Jahren verteilt bei unseren Verwandten, ich für´s erste bei meiner Tante in der Westerbachstr. 10.

Leinefelde, Heiligenstadt, nur wenig weiter als Friedland und doch für Jahrzehnte unerreichbarer als z.B. Norwegen oder Italien, die Fahrt von Leipzig nach Höxter fast eine Weltreise von vier Tagen, heute in wenigen Stunden zu schaffen. Sofort nach der Grenzöffnung im Dez. 1989 sind meine Frau und ich in Heiligenstadt gewesen und den Weg Niedergandern–Kirchgandern zu Fuß gegangen, diesmal in beiden Richtungen.

Das neue Schuljahr hatte bereits Ostern begonnen, mir fehlte durch den Unterrichtsausfall in den letzten Kriegsmonaten und die erneute Umstellung des Schuljahrbeginns – von Ostern auf Herbst im Dritten Reich und nun wieder vom Herbst auf Ostern – ein ganzes Jahr Unterricht. Ich wurde schon wenige Tage nach unserer Ankunft in Höxter im KWG angemeldet, mußte eine Aufnahmeprüfung ablegen und wurde wegen meiner Lücken mit „großem Bedenken“ in die Sexta aufgenommen. Bis zur Freigabe des angestammten KWG-Gebäudes in der Moltkestraße durch das britische Militär fand der Unterricht zunächst in den verschiedensten Unterkünften statt, für die unteren Klassen z.B. in der ehemaligen Baugewerkschule Ecke Papenstraße/Untere Mauerstraße; er war gekennzeichnet durch akuten Mangel an allen Ressourcen, die man gemeinhin für unverzichtbar hält: Es gab keine Schulbücher, oder sie waren unerschwinglich; Vokabel-Listen und Übungstexte wurden von unseren Lehrern auf grauem Altpapier – heute würde es Recyclingpapier heißen – hektographiert und stanken nach Petroleum, Schreibhefte gab es kaum, geschrieben und im Kunstunterricht ab 1948 bei StR „Fritze“ Klemm gemalt habe ich zeitweilig auf den Rückseiten von zurechtgeschnittenen Tapetenresten. In dem strengen Winter 1946/47 und auch später noch, 1953/54, als beide Male sogar die Weser zugefroren war, war das KWG nur unzureichend heizbar, wir saßen in dicke Mäntel gehüllt im Klassenzimmer, und wenn man auf die klamm gewordenen Finger hauchte, beschlugen die Nägel!

Überhaupt die Versorgung mit Heizmaterial: Briketts oder gar hochwertige Steinkohle hatten die Kohlenhändler kaum zu bieten, der Anthrazit ging sicher in die Stahlindustrie, soweit er nicht sogar an die Alliierten als Reparation geliefert werden mußte. Zum selben Zweck wurden im Solling riesige Waldflächen einfach kahl geschlagen. Zum Heizen und Kochen zuhause bekamen wir ein Kontingent an Holz zugewiesen, das wir unter Aufsicht des Försters z.B. im Heiliggeister Holz selbst fällen, entasten und in handliche Stücke zerlegen mußten, bevor es mit Pferdefuhrwerken nach Hause transportiert wurde. Das Zerkleinern in ofenfertiges Brennholz war wiederum Eigenarbeit. Auch Nahrungsmittel waren Mangelware, gut dran war, wer einen Garten besaß; der meiner Tante lag im Brückfeld und weckte Begehrlichkeiten. Deshalb schoben nachts und vormittags Tante oder Onkel, ab Mittag, wenn wir aus der Schule kamen, Cousine, Cousin oder ich im Sommer abwechselnd dort Wache; Schularbeiten wurden im Grünen bei Mutter Natur gemacht. Doch nicht nur Zweibeiner hatten ihre Augen auf die Gartenfrüchte geworfen; so flatterten über den Möhrenbeeten zahlreiche Schwalbenschwänze, und ihre grünen, schwarz-rot gebänderten Raupen ließen sich das Kraut schmecken. DDT hat diesen schönen Falter zur Rarität werden lassen.

Viele Lehrer haben meinen Weg durch das KWG gekreuzt, mancher nur kurz, wie eine Sternschnuppe, z.B. StR Gerwing (?) und Wilde, der schon bald wegen einer schweren Erkrankung den Dienst quittieren mußte, oder Wiesemeyer, damals noch Referendar, andere haben mich über Jahre begleitet und bleibende „Eindrücke“ unterschiedlichster Art hinterlassen, z.B. unser erster Biologielehrer StR Haack, genannt „Bums“, der eine stattliche Figur und eine kräftige Handschrift besaß. Damals waren „Ernte-Einsätze“ von Schulklassen im Sommer üblich; auch unsere Klasse wurde zum Kartoffelkäfer-Sammeln auf den Corveyer Feldern abkommandiert. Nach getaner Arbeit haben wir uns beim Dreizehnlinden-Kreuz in der Weser erfrischt – Mädchen waren noch nicht in der Klasse, so konnten wir es riskieren, notfalls auch ohne Badehose mit vorgehaltener Hand ins Wasser zu springen! In den Sommerferien sollten wir Heilkräuter sammeln, Dost, Johanniskraut, Kamille usw. Mir waren die Ferien dazu eigentlich zu schade, außerdem fehlte uns der Platz zum Trocknen; im Herbst jedoch habe ich auf dem Weg zum KWG in der Moltkestraße fleißig Kastanien gesammelt. Als mir dann im Unterricht bei „Bums“ zum zweiten Mal Kastanien aus den vollen Hosentaschen rollten, mußte ich nach vorn kommen: Mein Nein auf die Frage nach Heilkräutern wurde mit einer krachenden Ohrfeige quittiert, die mich gegen die vorderste Bankreihe warf, die zweite ließ mich mit dem Allerwertesten voran in dem großen hölzernen Abfallkasten neben der Tafel landen!

Auch StR Florin, kurz „Floh“, unser zweiter Mathe- (und Chemie-)Lehrer bis zur Obersekunda, konnte hundsgemein in den Oberschenkel kneifen oder „Kläpschen“ verteilen bei den lächerlichsten Anlässen, wie einem vergessenen Komma bei der analytischen Geometrie („Angenommen KOMMA!! Dreieck ABC sei das verlangte und ...“) oder beim Schnipsen mit den Fingern. Strafarbeiten, z.B. 50 Lehrsätze aufschreiben, waren durchaus üblich. Ja so warn´s, ja so warn´s, die alten Paukersleut – zum Glück nicht alle! Immerhin hat die so bei den Schülern forcierte Disziplin wohl bewirkt, daß unsere Lehrer damals bis zur Pensionsgrenze von 65 Jahren durchhielten.

Unser verehrter Englisch- und über viele Jahre (nach StR Haack und Kemper) auch Klassenlehrer Josef Stahl, genannt „Aki“, war da ganz anders, ein wirklicher Pädagoge. Als die grellbunten Hawaii-Hemden aufkamen, die über statt in der Hose getragen wurden, waren mein Bruder Volkmar und ich die ersten, die sich damit ins KWG trauten. Von vielen ernteten wir mißbilligende Kommentare, nicht so von „Aki“ Stahl, er wie alle Lehrer damals stets im Anzug und mit Krawatte; seine Reaktion: Bedauern, daß er das bei den herrschenden Temperaturen nicht nachmachen konnte! Mit ihm haben wir Radtouren zur Freilichtaufführung von „Wilhelm Tell“ in Bödexen oder nach Polle zum „Götz von Berlichingen“ und Wandertage in den Solling mit Geländespielen unternommen. Mit „Aki“ haben wir unseren „Einjährigen-Kommers“ am Ende der Untersekunda gefeiert und ihn gebeten, uns auch weiterhin zu duzen, was er aber mit Blick auf die Schulvorschriften ablehnte. In ausgelassener Stimmung haben wir ihn am Ende nach Hause in die Corveyer Allee gebracht und mit ihm zusammen seiner Frau „Akise“ zu nachtschlafender Zeit ein Ständchen gebracht; SIE erschien schemenhaft am Fenster, ob ER sich danach eine Standpauke anhören mußte?

StR Stahl war in den ersten Jahren nach dem Krieg als Dolmetscher für die britische Militärverwaltung tätig und hatte dadurch viel auch mit dem damaligen Kommandanten (?) Mr. Ross zu tun, der in der Moltkestraße, schräg gegenüber dem KWG, in einer prächtigen Villa residierte. Dieser hatte Probleme mit einigen Fischen in seinem Aquarium, und da StR Stahl wußte, daß Klaus Mathey – er zog später nach Paderborn und hat dort Abitur gemacht – und ich begeisterte Aquarianer waren, führte er uns bei Mr. Ross ein, wo wir des öfteren Kenntnisse in Englisch bzw. Aquaristik austauschen konnten und auch mal zum „british tea“ eingeladen waren. StR Stahl hatte ich auch meine ersten Nachhilfeschüler zu verdanken; damit finanzierte ich z.B. mein Zierfisch-Hobby.

Die Aquarien-Liebhaberei war seinerzeit nicht gerade ein bequemes Vergnügen; das nächste Zierfischgeschäft war in Holzminden, wir hatten anfangs keine Fahrräder und gingen die ca. 10 km von Höxter über Lüchtringen – die Weserbrücke in Holzminden gab es damals noch nicht wieder – nach Holzminden (und auch wieder zurück) natürlich zu Fuß. Nicht selten nahmen wir auch, um das Geld für die Weserfähre in Lüchtringen zu sparen, den Umweg durch den Solling, am Steinkrug und der Lüchtringer Heide vorbei.

Aki Stahl hätten wir liebend gern bis zum Abitur behalten, doch er sollte ein Jahr vor diesem Termin pensioniert werden, und so bekamen wir für die letzten beiden Jahre in der Prima StR Ummen in Englisch und als Klassenlehrer. Mit ihm bin ich, wie wohl auch manch anderer, nie so recht warm geworden. Wenn ich mich nicht sehr täusche, hatten wir zeitweilig auch Turnen bei ihm; er versuchte uns zu „äflätik juuf“ (athletic youth) zu erziehen, was zumindest bei mir nicht gelungen ist: Meine einzige Fünf hatte ich im Fach Turnen. Ein Fach abwählen, um das Notenbild zu verbessern, das gab es nicht.

Latein hatten wir anfangs bei dem als Leiter des KWG bis zur Entnazifizierung suspendierten OStD Dr. Hensel. Er war ein strenger Lehrer, der mehr als einmal säumigen Schülern sein „du nichtsnutziger Flaps“ entgegen schleuderte und einen Schüler sogar mit einem Fußtritt aus der Klasse und vom Gymnasium beförderte. Andererseits lernte man bei ihm gründlich Latein; sein plötzlicher Tod ist mir nahe gegangen, hatte er mir doch nach einem längeren Krankenhausaufenthalt, der mich in Latein ziemlich zurückgeworfen hatte, in den Ferien Nachhilfe angeboten. Die Geige seines gefallenen Sohnes, ein wertvolles altes Instrument, durfte ich bis zum Abitur als Leihgabe benutzen. An die Trauerfeier, bei der ich im Chor mitgesungen habe, und an die Beerdigung entsinne ich mich noch gut.

Nachfolger von Dr. Hensel sowohl als kommissarischer Leiter des KWG wie auch als unser Lateinlehrer war OStR Hans Müller, besser bekannt als „Jambus“, dessen leicht kauzige und scheinbar trottelige und weltfremde, dabei gütige Art zu gelegentlichen Schülerstreichen Anlaß gab. „Jambus“ war Pauker und zugleich ein hervorragender Pädagoge, er kannte genau die Schwächen seiner Schüler – und wir wußten ebenso genau, bei welcher Partizipialkonstruktion, ablativus absolutus o.ä. wer von uns so lange von ihm vorgeknöpft wurde, bis das Ganze auf Dauer saß. Er hatte für jeden eine charakterisierende Bezeichnung („äh, äh, der geschwätzige Sachse“); hatte er jemandem Unrecht getan, entschuldigte er sich! Bei ihm habe ich dauerhafte Lateinkenntnisse erworben. Daß er als Junggeselle mit uns Ovid und Horaz las, uns aber selbst in der Oberstufe „sinus“ mit „Bausch des Gewandes“ übersetzen ließ, hat uns mehr amüsiert als auf dumme Gedanken gebracht, und auch im Deutschunterricht, den wir mehrere Jahre bei ihm hatten, bis der neue Direktor Dr. Helmut Flume unsere Klasse übernahm, trug er uns auf, in unserer Pflichtlektüre, z.B. in Goethes „Hermann und Dorothea“, vorkommende Liebesszenen zu überschlagen („äh, äh, das ist nichts für euch!“)!

Dem feinsinnigen, humanistisch geprägten OStD Dr. Helmut Flume habe ich viel zu verdanken, nicht nur weil meine Eltern auf seine Vermittlung hin in Zeiten, da der Besuch eines Gymnasiums noch Schulgeld kostete, zweimal für mich eine „Erziehungsbeihilfe“, früher Vorläufer des Schüler-Bafög, von einigen hundert Mark erhielten. Flumes vielseitigem und engagiertem Deutschunterricht war es zu verdanken, daß meine Noten sich in diesem doch viel mehr als bei naturwissenschaftlichen Disziplinen von subjektiven Maßstäben und Urteilen geprägten Fach bis zum Abitur spürbar verbesserten.

Im Jahr 1949 wurde der altsprachliche Nebenzug am neusprachlichen KWG eingeführt, und unsere Klasse war die erste, die sich für Französisch (die Mehrheit) oder Griechisch (der Rest, darunter ich) als dritte Fremdsprache entscheiden konnte. Als ersten Griechischlehrer habe ich Paul Hebestreit, „Lumpi“, in Erinnerung, doch offenbar war es vorher noch für kurze Zeit Dr. Hensel, denn ich entsinne mich, daß wir energisch, doch vergeblich protestierten gegen „Lumpis“ Wahlspruch „Nulla dies sine linea“, der tägliche schriftliche Hausarbeiten bedeutete – waren wir doch solch eine Zumutung von Hensel vorher nicht gewohnt! Über den passionierten Jäger Hebestreit gibt es viele Anekdoten; nicht verbürgt ist die auch über andere erzählte Mär, er habe einen Kugelblitz mit der Bratpfanne fangen wollen. Wahr dagegen ist sein Ausspruch „Er bekommt einen ictus“, wenn er einem unaufmerksamen oder sonstwie strafwürdigen Schüler einen Faustschlag wie einen antiken Karatehieb auf die Schulter verpaßte. Daß er sehr naturverbunden war, liegt bei einem Jäger nahe, weniger, daß er ornithologische Namen, z.B. Iynx torquilla (Wendehals) für jemanden, der sich im Unterricht öfter umdrehte, oder Upupa epops (Wiedehopf) für einen unruhigen Schüler benutzte.

Später bekamen wir bis zum Abitur StR Winkelmann („Zeisig“) in Griechisch. Seine humorvolle Art hat uns manch harte Kost schmackhafter gemacht. Viel gäbe es zu erzählen, manches habe ich früher bereits, zwei Episoden sollte ich noch: Es hatte ein Fußballspiel gegeben, gegen die Türkei, und Deutschland hatte verloren. Unser „Zeisig“ war am anderen Morgen aufgebracht, schimpfte wie ein Rohrspatz über die blamable Leistung und wollte uns zeigen, wie die deutschen Kicker es hätten besser machen können: Er griff sich den Schwamm von der Tafel und wollte ihn gerade mit Schwung gegen die Tür als Fußballtor kicken – da öffnete sich diese und der Direx Dr. Flume samt Schulrat stand zur Visitation im Rahmen!!

Burghard Schloemann hatte ein Konzert in St. Kiliani gegeben, mit eigenen Kompositionen, und selbstverständlich waren wir alle da, auch StR Winkelmann, der jedoch bald immer unruhiger auf seinem Sitz hin und her rutschte und schließlich fluchtartig die Kirche verließ. Gefragt am anderen Morgen, was denn los gewesen sei, ob ihm die ungewohnt modernen Klänge nicht gefallen hätten, kam eine vernichtende Kritik: „Moderne Musik schlägt mir immer auf die Blase!“

1947 übernahm StR Behre nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft den Musikunterricht in unserer Klasse. Wer ein Instrument spielen konnte, bekam eine Zwei als Note, die anderen mußten vorsingen und wurden entsprechend eingestuft. Für die einen war Musikunterricht Gelegenheit, in den hinteren Reihen des Musiksaals Karten zu spielen, den Musikliebhabern indes erschloß K.-H. Behre die Grundzüge der Musiktheorie und repräsentative Kompositionen vom Barock bis zur Moderne, dazu gab er Einführungen zu den Sinfoniekonzerten im Saal der „Reichspost“ und später bei den Corveyer Schloßkonzerten, wobei er auch schon mal anläßlich eines Schülerkonzerts der Nordwestdeutschen Philharmonie selbst den Taktstock schwang. In Erinnerung sind mir Opernbesuche unserer Klasse in Detmold zu den „Meistersingern“ von R. Wagner und „Cardillac“ von P. Hindemith.

Daß das KWG bei damals etwa 450 Schülern ein Schulorchester auf die Beine stellen konnte, ist dem Engagement von StR Behre zu verdanken. Ich hatte privaten Geigenunterricht bei Henriette Hinrici, einer alten Dame, die bis zur Währungsreform mit Naturalien wie Briketts, Eiern usw. bezahlt wurde; erst danach kostete es „echtes“ Geld. Irgendwann mußte ich den Unterricht quittieren, entsprechend mäßig waren meine geigerischen Fähigkeiten, doch hatte ich am Notenpult mit Burghard Schloemann einen Mitspieler, der meine Schwächen souverän überspielte. Obgleich mit viel Proben verbunden – wenn andere frei hatten –, denke ich doch gern an die Aufführungen der „Schulmeister“-Kantate von Telemann mit StR Behre in der Titelrolle, an Hindemiths „Wir bauen eine Stadt“ und an das „Lumpengesindel“ von Bresgen zurück, an das Konzert zum Bach-Jahr 1950 in der Mädchen-Realschule am Markt und an andere schulische Ereignisse wie die Abiturienten-Entlassungen, die wir mehr oder weniger verschönern halfen. Zwar hat nicht erst K.-H. Behre meine Liebe zur Musik geweckt, aber vertieft und auf eine solide Basis gestellt.

Gleiches wie von der Musik kann ich von dem Fach, das die Grundlagen zu meinem späteren Beruf legen sollte, dem Chemieunterricht in der Untersekunda bei „Floh“, nicht sagen. Ich hatte schon vorher zuhause fleißig experimentiert; im Unterricht wurden zwar auch Versuche gemacht, doch „Floh“ ließ sich zu gerne zum Geschichtenerzählen animieren; die waren zwar auch interessant, aber man konnte in der folgenden Chemiestunde, wenn man das Gehörte rekapitulieren sollte, kaum etwas vortragen – und weit sind wir in die Chemie auch nicht eingedrungen.

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Mathematik hatten wir anfangs bei StR H. Kemper, genannt „Dackel“, bei dem der Lösungsweg das Ziel war („Ausrechnen ist grundsätzlich für die Dummen“, doch schnell sollte es auch gehen („Rubbel die Katz, wer hat´s, der hat´s“), dumme Rechenfehler wurden dennoch angekreidet. Auf „Dackel“ folgte „Floh“ mit seinen teilweise sehr schmerzhaften Methoden, uns die höhere Mathematik einzubläuen. Nach Florins Pensionierung führte StR R. Weyl uns in Mathe und Physik zum Abitur. Bei ihm lernte ich komplizierte Sachverhalte zu analysieren und – zunächst mit seiner Hilfe, dann allein – Versuchsanordnungen für den Physikunterricht aufzubauen. Referate zu Themen wie Radioaktivität oder dem Bohrschen Atommodell waren schon so etwas wie Anleitung zum selbständigen Arbeiten. Auch nach dem Abitur, bei den ersten tastenden Schritten an der Universität, half „Benny“ Weyl mit seinem Rat.

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Etwa 1952 kam StR K. Preywisch an das KWG und übernahm in unserer Klasse zunächst den Erdkunde- und später den Biologieunterricht. Wie Behre das musikalische, so hat Preywisch über Jahrzehnte hinweg das naturkundliche Leben am KWG und in der Stadt Höxter geprägt. In einer der ersten Geographiestunden – Schulbücher waren Mangelware und teuer, vor allem solche mit Abbildungen, wie sie in „Geo“ und „Bio“ benötigt wurden – las uns Preywisch einen Text vor, etwas stockend und mit seinem typischen, etwas harten Akzent. Es dauerte eine Weile, bis wir begriffen: Der Mann übersetzte – sozusagen online – vom Englischen ins Deutsche. Mir hat das mächtig imponiert. Im Biologieunterricht führte er schriftliche Tests ein mit „multiple choice“ Fragen wie „Der Hai gehört zu den A) Knochenfischen, B) Knorpelfischen, C) Weichtieren“, etwas, was wir bis dahin nicht kannten. Ich saß in der hintersten Reihe und sollte meinen Vorderleuten mit Tritten gegen das Stuhlbein und den Nachbarn mit entsprechender Fingerzahl auf dem Tisch die richtige Antwort signalisieren; am Ende war ich selbst so durcheinander, daß meine Arbeit in die Binsen ging, meine Klienten dagegen bessere Noten erhielten. Auf der ersten Exkursion zum Köterberg konnte ich die Scharte dann auswetzen. Als Biologielehrer war Preywisch zuständig für den Schulgarten mit dem nach seinem Vorgänger benannten „Bumsberg“; die Pflege – nicht immer mit dem allerletzten Einsatz – oblag uns Schülern.

Ab 1948 bekamen wir von StR Fritz Klemm regelmäßigen Kunstunterricht und Leibeserziehung, wie es so schön hieß. Bockspringen über die Rücken der Klassenkameraden auf dem Luisenplatz fällt mir dazu ein, Schwimmen im Freibad und Wettkämpfe auf dem Sportplatz dahinter als Auftakt des Schulfestes, aber auch Leichtathletik und Handball auf dem Schulhof des KWG, Geräteturnen in der Turnhalle; Fritze Klemm machte alles vor, auch bei der gefürchteten Körperschule. Wenn schließlich das erlösende „Glieder ausschütteln!“ ertönte, hatten wir es und waren wir geschafft, am nächsten Tag schleppten wir uns mit Muskelkater mühsam die große Treppe im Schulgebäude hoch. Sein Kunstunterricht war ausgezeichnet; wir lernten die verschiedensten Techniken kennen, vom Anfertigen von Mosaikbildern mit Kartoffelstempeln über Linolschnitte, Aquarelle, bis zum Porträt- und Schriftzeichnen. Viele Male sind wir mit Klemm in Höxter unterwegs gewesen, auf Dachböden herumgekrochen oder haben z.B. im Schulgarten „vor der Natur“ gezeichnet. Vom Unterricht in Kunstgeschichte, sei es in Architektur oder Malerei, zehre ich heute noch. Zwei Originalradierungen von Fritz Klemm mit Ansichten von Höxter erinnern mich an ihn.

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Ein Flickenteppich ist dieser Bericht, paßt er damit aber nicht auch zu den ersten Jahren nach 1945? Ein Flickenteppich ist auch die Erinnerung an diesen Zeitabschnitt und an die Unterstufenzeit am KWG. Evangelischen Religionsunterricht und Geschichte hatten wir bei „Scheich“ Dr. Otto gehabt, auch er passionierter Jäger mit eigener Jagdhütte, wie „Lumpi“ Hebestreit. Geschichte war ein durchaus heikles Fach: Während wir die Geschichte der Antike und des Mittelalters bis zum Exzeß lernten und zahlreiche Jahreszahlen herunter beten konnten, ging die neuere Geschichte auch später bei dem Spanien-Heimkehrer Dr. Luis nur bis zu Bismarcks Sozialgesetzen und dem Ersten Weltkrieg. An den Rest traute sich niemand heran, es gab wohl auch zu wenig Lehrmaterial darüber. Wiederholt hat der „Scheich“ mich mit meinem jüngeren Bruder verwechselt, zuletzt noch etwa ein halbes Jahr nach meinem Abitur, als ich die alte Penne besuchte und er mich partout in die Klasse meines Bruders jagen wollte, ich solle nicht so aufsässig sein, mein Abitur hätte ich noch längst nicht sicher! Auf seinen Irrtum hingewiesen, meinte er nur, wir hätten eben das gleiche Spitzbubengesicht. Wie die Gesichter, so wurden auch mal einfach die Noten ausgetauscht.-

Lange ersehnt und dann doch mit gemischten Gefühlen erwartet, stand schließlich das Abitur vor der Tür. Die schriftlichen Arbeiten waren vorbei; zwar durften die Lehrer über die Ergebnisse nichts verraten, aber einige Andeutungen sickerten doch durch. Zum mündlichen Teil am 28. Febr. 1955 – mit 17 ´ 3 (im Schnitt) Prüfungen an einem einzigen Tag auch für das Lehrerkollegium ein ziemlicher Stress – waren wir im Klassenraum der Unterprimaner angetreten, wurden von diesen mit viel Kaffee aufgemuntert und jeweils einzeln, mit hochrotem Kopf und klopfendem Herzen – vom Coffein natürlich – zur „Schlachtbank“ ins Lehrerzimmer geholt. Am späten Nachmittag dann die erlösende Kunde: Alle hatten bestanden! Nach der feierlichen Entlassung am 5. März mit Preisen und Preisungen folgte der traditionelle Umzug auf einem Wagen, wir mit Zigarre und Zylinder obenauf, die Unterprimaner als Zugpferde davor, von der Moltkestraße zum (Alten) Rathaus an der Weserstraße und dreimal drum herum. Der Abiturientenball am Abend im damals noch existierenden Ausflugslokal „Wilhelmshöhe“ mit der Freundin, mit der Angebeteten, war für alle Höhepunkt und Abschluß von bis zu neun Jahren am KWG!

Einmarsch und Auszug der Gladiatoren - bitte hier klicken

Epilog

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Nach dem Abitur trennten sich unsere Wege: Ich ging zunächst nach Leverkusen, um Geld für das Studium zu verdienen, und dann nach Göttingen an die Universität. Dort habe ich mir mit Ernst Köhler mehrere Jahre eine Studentenbude geteilt. Ein Abend mit Marlies Spiekermann (verh. Koch) und Waltraud Pienkny (verh. Amos), die beide ebenfalls in Göttingen studierten, hat „Ernest“ und mir ein unvergeßliches Erlebnis beschert – auf dem langen Heimweg zu Fuß zu unserer Bude außerhalb Göttingens konnten wir ein phantastisches Schauspiel, eine aurora borealis, Nordlicht, am Himmel über Göttingen beobachten.

Wolfram Krömer traf ich von Leverkusen aus in Hochdahl bei Düsseldorf; gemeinsam haben wir unserem Vorfahr im Neandertal einen Besuch abgestattet. Mit Burghard Schloemann bin ich über die Musik (z.B. „Brahms in Göttingen“) in Kontakt geblieben, und mit der Familie von Klaus Mathey verbindet uns auch ohne Aquarienfische eine herzliche Freundschaft. Anderen aus der Klasse bin ich nur im Zusammenhang mit Abituriententreffen begegnet; 1975, 20 Jahre nach dem Abitur, und 1985 waren noch K.-H. Behre, F. Klemm und K. Preywisch mit von der Partie, R. Weyl schickte einen Gruß, 1996 war keiner unserer alten Lehrer mehr dabei, und inzwischen ist auch der letzte, H. Flume, nicht mehr unter den Lebenden. Nicht alle wurden hier erwähnt, keiner aber ist vergessen. Jetzt sind wir, die wir damals unsere Lehrer für alt hielten, selbst älter, als sie es waren – sind wir wirklich schon soo alt? – es ist eben alles relativ. Der erste von uns 17 Abiturienten, Udo Krüger, erlag schon 7 Wochen nach der Reifeprüfung einer heimtückischen Erkrankung, und auch Josef Breker starb viel zu früh 1994. Es wird Zeit für ein neues Klassentreffen – der Termin für das 45-jährige Jubiläum ist bereits verstrichen.

Dr. Burkhard Knieriem, 08.03.2001

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